Von Bernd Willems
Als wären die Verhaftungen, Abschiebungen, Misshandlungen und andere drangsalierende Maßnahmen der Besatzungsmacht noch nicht genug, setzt im Lauf des Jahres 1923 auch noch eine rasante Teuerung in allen Lebensbereichen ein, die in einer nie da gewesenen Geldentwertung gipfelt.
In welchem kaum vorstellbaren Tempo die Inflation in die Höhe schnellt, um zum Jahresende ihren Höchststand zu erreichen, veranschaulicht sehr eindrucksvoll die Entwicklung der Gebühren für einen Brief: Von 1875 bis 1916, also 41 Jahre lang, hat das Porto 10 Pfennige betragen. Doch schon seit 1916 erhöht es sich ständig und erreicht am 15. Januar 1923 bereits den Betrag von 50 Mark. Ein halbes Jahr später muss man für den Brief schon 300 Mark, am 1. August 1.000 Mark, am 1. September 75.000 Mark, am 1. Oktober 2 Millionen Mark, am 1. November 100 Millionen, am 5. November 1 Milliarde und schließlich Ende des Monats die astronomische Summe von 80 Milliarden bezahlen. Die Spitze liegt schließlich im Dezember bei dem schwindelerregenden Betrag von 100 Milliarden Mark.
Was eine Familie gegen Ende der Inflation täglich für ihren Lebensunterhalt aufbringen muss, lässt sich im Vergleich mit diesen Zahlen ungefähr ausrechnen: Es geht in die Billionen. Das Gehalt z.B. eines Postbeamten beträgt im Dezember zwar 95 Billionen 955 Milliarden (in Ziffern 95.955.000.000.000) Mark. Ende 1923 kostet aber allein ein Pfund Kartoffeln 50 Milliarden, ein Ei 80 Milliarden, ein Pfund Brot 260 Milliarden, ein Pfund Fleisch 3,2 Billionen; für ein Pfund Butter muss man sogar 6 Billionen Mark ausgeben. Man rechnet also nicht mehr mit Millionen, kaum mehr mit Milliarden, sondern fast nur noch mit Billionen. Millionenbeträge sind am Ende nur noch „Kleingeld“.
Eine wahre Begebenheit aus dieser Zeit hat Wilfried Burr in den 1970er Jahren für RuH aufgeschrieben: „An einem Sommertag im Jahre 1923 verstauten zwei Schullehrer in Trier nicht weniger als 14 Milliarden Mark in einem Rucksack. Per Fahrrad brachten sie den Geldbetrag, der das dreifache der französischen Kriegsschuld von 1870 ausmachte, 40 km weit in die Bürgermeistereien von Hermeskeil und Otzenhausen. Die Notgeldscheine im Wert von je fünf Millionen Mark, druckfrisch in der Firma Schaar & Dathe abgeholt, wurden den in den genannten Hochwaldbezirken angestellten Lehrern als Monatsgehälter ausgezahlt. ‚Millionäre und doch bettelarm‘ schrieb seinerzeit sarkastisch einer der beiden Geldtransporteure in seine privaten Annalen.“
Der Kampf um das tägliche Brot ist in der Besatzungszeit und angesichts der fortschreitenden Inflation von besonderer Härte geprägt. Das belegt auch ein Tagebucheintrag aus einem Hochwalddorf vom Mai 1923:
„Die streikenden Bergleute und alle anderen Arbeitslosen beziehen Arbeitslosenunterstützung, müssen dafür aber Arbeiten für die Gemeinde leisten. Es sind sogenannte ‚Notstandsarbeiten‘. Die hiesigen ‚Notständler‘ flicken zum Beispiel die Straße nach Bierfeld und friedigen den Kirchhof neu ein. Die Vergabe der dabei zu leistenden Fuhren erregt Mißstimmung, Differenzen und schließlich Streit, so daß die Notstandsarbeiten einmal für acht Tage eingestellt werden müssen und es der Vermittlung des Bürgermeisters bedarf, die erhitzten Gemüter zu beruhigen und die beiden Parteien (Bauern und Bergleute) einander näher zu bringen. In dieser Angelegenheit fand Ende April vor dem Hause des Ortsvorstehers auf offener Straße eine Versammlung statt. Das Ende derselben war beinahe eine Keilerei.“
In dieser schweren Zeit gibt es aber auch den einen oder anderen Lichtblick, zum Beispiel in der Person des Geisfelder Pfarrers Bernhard Pees1, der zu einem „Helfer des Hochwaldes“ wird, wie RuH später schreiben wird. Er scheut nicht den für einen Priester ungewöhnlichen Weg, kommunalen Institutionen beizutreten: 1920 ist er in den Gemeinderat gewählt worden; wenig später in den Bürgermeistereirat2, den Kreistag und den Kreisausschuss gekommen. Zudem ist er Kreisbauernführer im Trierischen Bauernverein. 1923 wird er erster Kreisdeputierter, also stellvertretender Landrat. Während der Inflationszeit steht er, nachdem Landrat Dr. Pohl von den französischen Besatzern ausgewiesen worden ist, 17 Monate an der Spitze des Landkreises Trier.
„Er... war nicht nur bestrebt, alle Geisfelder einmal in den Himmel zu führen, er hatte sich auch zum Ziel gesetzt, die geplagten Menschen aus dem Chaos ihres Alltags herauszuführen“, heißt es in einem Dokument auf der Internetseite der Gemeinde Geisfeld. Pees initiiert u.a. die Landzusammenlegung, die die landwirtschaftlichen Betriebe in Geisfeld widerstandsfähiger macht. Mit Bauern des Dorfes gründet er eine Webereigenossenschaft mit gemeindeeigener Schafherde. Etwa zehn Webstühle werden im Dorf aufgestellt und durch die Produktion von Betttüchern, Bettbezügen und Hemdenstoffen kommt bares Geld in die Familien. In Verhandlungen mit dem Kulturamt gelingt es ihm auch, sechs neue Straßen, die aus dem Dorf führen, ca. 50 Bauplätze und viele Gärten rund um das Dorf zu schaffen.
Trotz der schweren Zeit wagen auch im Jahr 1923 mutige Menschen, ein neues Unternehmen aufzubauen. So nutzt Peter Breit die günstige Lage an der Eisenbahnverbindung von Hermeskeil über den Hunsrück nach Simmern aus, um am Pölerter Bahnhof ein Handelsunternehmen zu gründen, zunächst mit dem Schwerpunkt auf Dünge- und Futtermitteln, heute - nach 100 Jahren - eines der renommiertesten Fachgeschäfte für Baustoffe und Baubedarf aller Art im gesamten Hochwald.
Wilhelm Rittmeyer gründet 1923 in Trier einen Gärtnereibetrieb. Als dieser 1927 dem Hindenburg-Gymnasiums weichen muss, zieht er nach Hermeskeil, wo er das Gelände Trierer/Ecke Gusenburger Straße (genannt Bohrnköpfchen)3 kauft. Hier entwickelt sich ein Gartenbaubetrieb, der schon zehn Jahre später als führend im Hochwald angesehen wird. Über drei Generationen existiert die Gärtnerei Rittmeyer in Hermeskeil.
Im Zentrum von Hermeskeil gründet der Organist und Chorleiter Josef Buhr, auch Dirigent des 1919 entstandenen Musikvereins Hermeskeil, ein Musik- und Instrumentengeschäft, das zunächst in der Trierer Straße, später an der Ecke Martinus-/Züscher Straße beheimatet ist und nach seinem Tod von seinem Sohn und Nachfolger Rudolf Buhr jahrzehntelang erfolgreich fortgeführt wird. (wird fortgesetzt, weitere Quellenangaben im letzten Teil der Serie)
1 Bernhard Pees (* 1882 in Horhausen, + 1940 in Geisfeld) war von 1911 bis 1940 Pastor in Geisfeld
2 vergleichbar mit dem heutigen Verbandsgemeinderat
3 Heute steht an der Stelle, wo sich die Gärtnerei Rittmeyer befand, der im Jahr 2009 eröffnete Lidl-Markt.