Vor 150 Jahren tobt zwischen Reichskanzler Otto von Bismarck und der Katholischen Kirche im preußisch dominierten Deutschen Reich der „Kulturkampf“, der 1871 begonnen hat und bis 1881 dauern wird. Dessen Ziel ist es, Kirche und Staat voneinander zu trennen und den politischen Einfluss der Kirche im Reich zu unterbinden.1 Da findet sich am 5. Juli 1873 in der Deutschen Reichs-Zeitung die folgende „Erklärung“:
Gegenüber der in ihrer Art einzigen Behauptung, „daß bei Wallfahrten, an welchen sich Personen beiderlei Geschlechts betheiligten und welche eine längere Dauer in Anspruch nehmen, so daß ein Uebernachten erforderlich ist, erfahrungsmäßig dem übermäßigen Genusse von Spirituosen und der Unsittlichkeit gefröhnt werde“, erklären die Unterzeichneten, welche mit ihren resp. Pfarrangehörigen am 6. Juni nach St. Matthias bei Trier eine Wallfahrt abhielten, daß sie trotz der gewissenhaftesten Ueberwachung nicht in Erfahrung bringen konnten, daß bei dieser Wallfahrt, an der Personen beiderlei Geschlechts sich betheiligten, dem übermäßigen Genusse von Spirituosen und der Unsittlichkeit gefröhnt worden sei, daß sie hingegen sich überzeugten, daß von den 480 Pilgern mehr als die Hälfte zur heil. Beichte ging, sich die Absolution geben ließ und die hl. Communion empfing.
Außerdem gingen den Unterschriebenen von den verschiedensten Seiten die belobensten Anerkennungen zu über die erbauende Haltung der Pilger bei der Procession selbst und ihr musterhaftes Betragen in ihren Quartieren.
Gusenburg und Hermeskeil, den 1. Juli 1873.
Hermes, Pastor in Gusenburg.
Lauer2, Caplan in Hermeskeil.
Was hat die geistlichen Herren aus dem Hochwald zu diesem Schritt bewogen? Die Antwort auf diese Frage findet sich in einer Anordnung der Königlichen Regierung, Abteilung des Innern, unterzeichnet mit dem Namen Linz. Zwei Wochen vorher hat dieser Erlass in der gleichen und in anderen Zeitungen gestanden. Darin sind strenge Regeln für die Genehmigung von Versammlungen unter freiem Himmel, zu denen die Regierung auch Wallfahrten zählt, ausführlich dargelegt. Der betreffende Passus lautet:
„Für Wallfahrten, an welchen sich Personen beiderlei Geschlechtes betheiligen, und welche eine längere Dauer beanspruchen, so daß ein Uebernachten erforderlich wird, ist in der Regel die Genehmigung von vorneherein zu versagen, da bei diesen Gelegenheiten erfahrungsgemäß leicht dem übermäßigen Genusse von Spirituosen und der Unsittlichkeit gefröhnt wird.“
Schon am 27. Juni 1873 hat der Westfälische Merkur kritisiert:
Das ist ein Vorwurf, den Niemand und am allerwenigsten eine Staatsbehörde aussprechen sollte, ohne daß sie die betreffenden Belege zur Hand hätte. Welche Erfahrung hat Herr Linz in dieser Beziehung gemacht? Wer sind die Leute, auf deren Aussage er das Erfahrungsgemäße stützt?
Auch die Deutsche Reichs-Zeitung hat einen Tag vor Veröffentlichung der „Erklärung“ Kritik geübt. In ihrer Ausgabe vom 4. Juli 1873 schreibt sie:
In ihrem famosen Wallfahrtsedikt ereifert sich die hiesige Regierung gegen die altkirchlichen Wallfahrten aus dem Grunde, weil bei ihnen erfahrungsgemäß leicht dem übermäßigen Genuß von Spirituosen und der Unsittlichkeit gefröhnt würde. Nun, wir haben schon so manche Wallfahrt mitgemacht, aber weder Betrunkene unter den Wallfahrern gesehen, noch sonstige Ausschweifungen wahrgenommen, im Gegentheil, wir haben wiederholt gehört, daß Bacchus3 und Venus4 sich nicht zu den armen, müden Wallfahrern gesellen, wohl aber bei den Lustbarkeiten der großen Städte, Residenzen und Badeorte verkehren und auch auf Turn-, Schützen- und anderen liberalen Festen nicht seltene Gäste sein sollen. Da wäre vor allem Berlin mit seinen oft nicht zu passierenden gewissen Straßen incl. Orpheum5, wo die löbl. Sittenpolizei Arbeit hätte. Die „Kölnische Zeitung“ annonciert indessen ruhig: „Orpheum, Sommernachtsball“, ohne daß die Regierung sich einmischt, um als Sittenrichter zu erscheinen. Da thut’s Noth.
Zweieinhalb Monate später zeigen „ausführende Organe“ der Regierung, dass sie da keinen Spaß verstehen. Das Echo der Gegenwart berichtet am 25. September 1873:
Trier, 22. Sept. Gestern Abend 8 Uhr hat in dem Seb. Font’schen Saale hier eine Volksversammlung stattgefunden. Der Saal war dicht gedrängt von Männern und Jünglingen aus den verschiedenen Ständen. Herr Kaufmann Fuchs aus Köln sprach über „staatsgefährlich“. Herr Caplan Dasbach warnte vor zwei Adressen die hier zu Lande in Circulation gesetzt seien… Redner wollte sodann über Prozessionen und Wallfahrten sprechen. Nachdem er die Wallfahrten im Jahre 1844 zum heiligen Rocke in Trier geschildert, berührte er den berühmten Erlaß der hiesigen königlichen Regierung (wenn ich nicht irre) vom 6. Juni über Prozessionen und Wallfahrten und las daraus u. a. folgenden Passus vor: „Daß erfahrungsmäßig bei Wallfahrten der Trunksucht und der Unsittlichkeit gefröhnt wird.“ Als darauf für die königliche Regierung allerdings nicht sehr schmeichelhafte Stimmen sich hören ließen, erklärte von den beiden anwesenden Polizei-Commissaren der Commissar Schneider, daß der Verfügung einer Behörde in solcher Weise nicht gedacht werden dürfe und er daher die Versammlung schließen müsse, was denn auch geschah. Daß es so kommen könne, scheint das Comité, welches die Versammlung veranlaßt, geahnt zu haben. Denn Herr Dasbach machte darauf aufmerksam, daß er um 9 Uhr in demselben Saale eine Wähler-Versammlung abhalten werde und ersuchte die Anwesenden, derselben beizuwohnen. In dieser eben so stark besuchten Versammlung wollte Herr Fuchs eben von den nächsten Wahlen sprechen, als noch während seiner Einleitung auch diese Versammlung durch denselben Commissar aufgelöst wurde, und zwar, man sollte es kaum glauben, aus dem Grunde, weil Redner in ganz gemüthlicher Weise sagte, „daß wir Katholiken auf den Gesetzen eigentlich reiten müßten, daß wir jedoch in Bezug auf deren Ausführung in gewissen Fällen gar nicht so stramm sein wollten, da wir z. B. neben den beiden Polizeicommissaren in der Versammlung auch noch anderes Polizeipersonal gerne duldeten und uns unter dem polizeilichen Schutze einer Obrigkeit, der unsere Sache so sehr am Herzen liege, gar wohl befänden.“ Ob der Polizei-Commissar bei diesen Vorfällen vielleicht par ordre gehandelt, wissen wir nicht; auf ein Gesetz hat er sich, soweit wir ihn verstanden, nicht bezogen. Wir sind begierig, zu erfahren, wie er sich gegen die Beschwerden, die dieserhalb gegen ihn erhoben werden müssen, rechtfertigen wird.
Der „rheinländischen Ironie“ in den Worten des Redners waren die Staatsdiener offenbar überhaupt nicht zugänglich und verstanden in der Sache keinen Spaß. (WIL-)
(wird fortgesetzt)
1 wikipedia
2 An anderer Stelle wird er Sauer genannt.
3 Lateinischer Name für Dyonisos, Gott des Weines, des Rausches, des Wahnsinns und der Ekstase in der griechischen Mythologie
4 Römische Göttin der Liebe, des erotischen Verlangens und der Schönheit
5 ein „bekanntes und etwas anrüchiges Vergnügungslokal“ (Echo der Gegenwart v. 17.04.1864); „ein von der Demi-Monde dritten Ranges frequentiertes Tanzlokal“ (Central-Volksblatt v. 27.04.1864); „lüderlicher Frauenzimmer nächtlicher Aufenthaltsort“ (Mannheimer Abendzeitung v. 31.08.1869); „Brutstätte des Lasters“ (Kölnische Zeitung v. 28.12.1871)