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Rund um Hermeskeil
Ausgabe 8/2023
Aus der Heimatgeschichte
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Als das Porto für einen Brief 100 Milliarden Mark kostete

Besatzung, Plünderungen, Streik, Separatismus, Inflation – 1923 war auch im Hochwald ein aufregendes Jahr (IV)

Von Bernd Willems

Kürzlich - an Weiberfastnacht - erstürmten die Karnevalisten im Rheinland Rathäuser, Polizeistationen, Gerichte und Behörden. So auch in Hermeskeil, wo das Prinzenpaar des KV Ruck Zuck diese Tradition, nach der in der „5. Jahreszeit“ die Narren symbolisch die Herrschaft übernehmen, pflegte. Das Gute daran: Am Aschermittwoch war alles vorbei und alle gingen wieder ihrer gewohnten Beschäftigung nach. Die Narren, die vor 100 Jahren im Rheinland und auch in Hermeskeil die Rathäuser besetzten, meinten es dagegen ernst.

Mitten in der galoppierenden Inflation proben Separatisten, auch Sonderbündler genannt, den Aufstand. Ihr Ziel ist die Loslösung des von den Franzosen besetzten linksrheinischen Territoriums vom Deutschen Reich und die Gründung einer „Rheinischen Republik“ mit enger Anbindung an Frankreich. Im ganzen Kreisgebiet stürmen am 22. Oktober 1923 zum Teil schwer bewaffnete Anhänger der Abspaltung die Verwaltungszentralen. Auch in das Hermeskeiler Rathaus dringen sie ein und rufen hier durch Verlesen einer Proklamation die Rheinische Republik aus.1

Das Auftreten der Bewegung, die von den Besatzern unterstützt wird, hat schon vorher zu Spannungen geführt, da sie keinen großen Zulauf hat und die weitaus überwiegende Mehrheit der Bevölkerung ihr Ziel ablehnt. Auch nach ihrer „Machtübernahme“ stoßen die Separatisten in Hermeskeil auf Widerstand: Beamte der Verwaltung, des Gerichts und der Post weigern sich, Formulare zu unterschreiben, mit denen sie auf die Rheinische Republik vereidigt werden sollen. Die von den Aufständischen auf dem Rathaus gehisste separatistische Fahne2 bleibt nicht lange oben. Schon nach zwei Tagen wird sie eines Nachts von Amtsgerichtsrat Simmes und Gerichtsassessor Rhein entfernt.

Willkür und Schikane

Nachdem die Franzosen den Belagerungszustand ausgerufen haben, durchsuchen die Separatisten mit Unterstützung von „Spahis“3 alle Häuser in Hermeskeil nach Waffen, die sie beschlagnahmen. Abends patrouillieren bewaffnete Gruppen durch den Ort, nehmen wahllos Männer fest, die sie ins Bürgermeisteramt schleppen und teilweise so sehr misshandeln, dass diese ärztlich behandelt werden müssen. Auch die mutigen Gerichtsmänner werden verhaftet und in Trier eine Woche lang im Militärarrest festgehalten. Vier Wochen lang schikanieren die Separatisten unter der Führung des Müllers Nikolaus Dellwing (1861-1931) die Bevölkerung, halten das Rathaus und die Telefonzentrale besetzt und behindern die Verwaltung bei ihrer Arbeit.

Dittmar Lauer beschreibt unter Berufung auf den Hermeskeiler Rektor und Heimatforscher Ludwig Bach die Dellwings als „eine Familie, die sich aufgrund ihrer Herkunft stets als Wallonen bzw. Franzosen fühlte und sich nur schwer mit den Deutschen anfreunden konnte.“ Sie hätten sich folgerichtig als Anführer der Hermeskeiler Separatisten angeboten.4

Dass die örtliche Polizei das aus Sicht des preußischen Staats illegale Treiben nicht unterbindet, liegt hauptsächlich daran, dass ihr von den Besatzungsbehörden der Gebrauch von Waffen verboten worden ist; zum Teil ist die Polizei sogar vor dem Putsch entwaffnet worden.5

Zu den Sonderbündlern gehört auch der 1876 in Hermeskeil geborene Franz Düpre, der sich in der Zeit des Aufstands in Trier als „Polizeikommissar“ betätigt. Sechs Jahre später wird er noch einmal in den Nachrichten auftauchen: Am 11. Januar 1929 verletzt er in Hermeskeil seine Geliebte, eine 35-jährige, von ihrem Mann getrennt lebende Frau mit sechs Kindern, durch einen Kopfschuss lebensgefährlich und erschießt sich dann selbst. Aus einem Brief, der am Tatort gefunden wird, geht hervor, dass er auf Wunsch der Frau gehandelt hat6.

Zu den Verhältnissen in Trier lesen wir bei Kentenich: „Es hat vielfach Mißfallen erregt, daß die Polizei in jenen Tagen die grün-weiß-rote Kokarde anlegte. Es war lediglich ein von der Stadtverwaltung gebilligter Schachzug, der weitere Scherereien mit dem unberechenbaren Separatistengesindel unterbinden sollte...“7 In Hermeskeil werden sich die Bediensteten der Verwaltung und anderer Behörden deshalb ähnlich wie ihre Trierer Kollegen verhalten und ihren Dienst unter den gegebenen Umständen weiter verrichtet haben.

Die Wende...

... setzt am 17. November ein, als in Trier der Bezirksdelegierte der französischen Besatzung auf Antrag der Stadtverwaltung einen Streik im Elektrizitätswerk, das nicht nur Trier, sondern einen großen Teil des Umlands mit Strom versorgt, beendet. Die Besatzungsmacht hat wohl eingesehen, dass die Separatisten nicht zu einer ordnungsgemäßen Verwaltung in der Lage sind, und beendet das Experiment. Französische Truppen räumen das von streikenden E-Werkern, die den Separatisten nahe stehen, besetzte Rathaus. Sowohl die Streikenden als auch die separatistischen Polizeitruppen werden entwaffnet und die von den Sonderbündlern besetzten Polizeiwachtstuben aufgehoben.8

Auch im Hochwald werden auf Betreiben einer Hermeskeiler Kommission, die beim Kreisdelegierten der Besatzer vorstellig wird, die Separatisten entwaffnet und ein mit Billigung des Delegierten gegründeter Bürgerausschuss sorgt wieder für Ruhe und Ordnung. Die Sonderbündler verlassen am 23. November das Hermeskeiler Rathaus, zwei Tage darauf wird ihre Fahne wieder vom Dach geholt. Danach verschwindet die Bewegung zumindest im Hochwald mehr oder weniger sang- und klanglos von der Bildfläche. Mit den Strafanzeigen ihrer Opfer befassen sich anschließend Staatsanwaltschaft und Gerichte.

Das Leben geht weiter

Trotz der vielfach dramatischen Verhältnisse geht das Leben auch im Jahr 1923 großenteils seinen normalen Gang, wie man an den folgenden Nachrichten (nicht abschließend) erkennen mag:

1923 geboren12

Erfolgreicher Kampf gegen die Misere

Im November 1923, auf dem Höhepunkt der Inflation, wird eine neue Währung für das Deutsche Reich geschaffen: die Rentenmark, die elf Monate später durch die Reichsmark abgelöst wird. Die katastrophalen wirtschaftlichen Folgen der Inflation bringen die Alliierten dazu, ihre Politik gegenüber dem Deutschen Reich zu überdenken. Man kommt zu der Erkenntnis, dass nur ein wirtschaftlich starkes und gesundes Deutschland überhaupt in der Lage sein kann, Reparationszahlungen zu leisten. So erholt sich in der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre die Wirtschaft im Deutschen Reich merklich. Man ahnt noch nichts von einer Wirtschaftskrise, die - beginnend mit dem New Yorker Börsencrash im Oktober 1929 – zu Anfang der 1930er-Jahre nicht nur die ganze Welt in Atem halten und viele Menschen rund um den Globus in bittere Not stürzen, sondern auch im Deutschen Reich dazu beitragen wird, den Aufstieg eines der größten Verbrecher der Weltgeschichte zu ermöglichen. (Ende)

Quellen

RuH-Archiv

Berliner Tageblatt

Kölnische Zeitung

Mannheimer General-Anzeiger

Oldenburger Zeitung

Günter Dellwo, Reihe der Pastoren in Gusenburg

Gottfried Kentenich, Trier und das Trierer Land in der Besatzungszeit 1919–1930

Dittmar Lauer, Schellemann Nr. 35/2022

geisfeld.de/media/blickpunkt/blickpunkt_22.pdf

Datenbank der Kulturgüter in der Region Trier - kulturdb.de

planet-wissen.de

wikipedia


1 Am gleichen Tag geschieht dies in allen größeren Städten des Rheinlands. In Koblenz wird eine separatistische Zentralregierung installiert, die bereits am 25. Oktober mit dem Erlass von Notverordnungen beginnt.

2 Grün-weiß-rote Streifen (von oben nach unten)

3 berittene Kolonialtruppen der Besatzungsmacht, vorwiegend Algerier

4 „Schellemann“ Nr. 35/2022“

5 Gottfried Kentenich, Trier und das Trierer Land in der Besatzungszeit 1919–1930. 12 Jahre unter der Geißel der Fremdherrschaft. Volksfreund Druckerei Trier 1930

6 Kölnische Zeitung, Das Ende eines Sonderbündlers, 12. Januar 1929

7 Kentenich, a.a.O.

8 Kentenich, a.a.O.

9 Der Ort Sauscheid wurde durch Ministerialerlass vom 30. September 1932 in Grimburg umbenannt.

10 Peter Mohr war von 1950 bis 1958 Pastor in Hermeskeil. Aus Anlass seines 25-jährigen Priesterjubiläums wurde 1956 die „Stalingrad-Madonna“ an der Pfarrkirche St. Martinus als Mahnmal aufgestellt. Peter Mohr war als Divisionspfarrer der 16. Panzerdivision in Stalingrad am 2. Februar 1943 in russische Kriegsgefangenschaft geraten, aus der er nach 7 Jahren am 28. April 1950 entlassen wurde (Datenbank der Kulturgüter in der Region Trier - kulturdb.de).

11 Heinrich (Friedrich Wilhelm) Mühlenheinrich (1884-1947) war von 1914 bis 1926 Pastor in Gusenburg (Günter Dellwo)

12 Die Aufzählung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.