Seit vielen Jahrzehnten erinnern Bingerinnen und Binger am 9. November an der ehemaligen Synagoge in der Rochusstraße 10 an die Pogromnacht von 1938.
Veranstalter sind die christlichen Binger Gemeinden. Unterstützt werden sie vom Arbeitskreis Jüdisches Bingen, dem Verein TIFTUF, der Rochus-Realschule-Bingen und dem Stefan-George-Gymnasium Bingen. Auch für Oberbürgermeister Thomas Feser ist es stets eine Selbstverständlichkeit, an diesem Gedenken teilzunehmen.
„Es ist unsere Verantwortung, das Andenken an die Opfer der Shoah zu bewahren und die Erinnerung an die jüdische Geschichte und Kultur in unserer Stadt lebendig zu halten“, so der Oberbürgermeister.
Lange jüdische Tradition
Bingen hat eine lange und tiefe jüdische Tradition, die bis ins Mittelalter zurückreicht. Die erste Erwähnung einer jüdischen Gemeinde in Bingen stammt aus dem Jahr 1160, wie der Reisende Benjamin von Tudela berichtet. 1254 wurde die Judengasse, die heutige Rathausstraße, erstmals erwähnt, 1368 die erste Judenschule der Stadt.
Der jüdische Friedhof am Rochusberg, der auf das Jahr 1570 zurückgeht, ist ein bedeutendes historisches Zeugnis und gehört mit seinen rund 1.000 erhaltenen Grabsteinen zu den größten in Rheinland-Pfalz.
Zu den bedeutendsten Persönlichkeiten, die hier ihre letzte Ruhe fanden, gehört Dr. Isaak Ebertsheim (30.12.1818 bis 5.2.1901), Ehrenbürger der Stadt Bingen am Rhein. Der Arzt – im Volksmund „Dr. Rüböl“ genannt, da er große Stücke auf die Naturheilkunde hielt – hatte in Gießen Medizin studiert und auch Vorlesungen in Mathematik, Geschichte und Chemie belegt. Aufgrund seines jüdischen Glaubens wurde ihm die Stelle als Kreisarzt verwehrt und so wirkte er viele Jahre als leitender Arzt am Binger Hospital. Er betreute das Lazarett für Schwerkranke im Krieg 1870/71 und war Armen- und Bahnarzt. Die Dr.-Ebertsheim-Straße (zwischen Veronastraße/Im Mittelpfad und Pfarrer-Heberer-Straße) ist nach ihm benannt.
Die jüdische Gemeinschaft hat in früheren Jahrhunderten die Stadtgeschichte maßgeblich geprägt, insbesondere auch als Weinstadt. „Ohne die jüdischen Händler wäre Bingen nicht zu der Stadt geworden, die sie heute ist“, hebt das Binger Stadtoberhaupt hervor.
1689 wurde erstmalig von der Synagoge in der heutigen Rheinstraße gesprochen; 1905 wurde die „Neue Synagoge“ in der Rochusstraße gebaut. Die beiden Synagogen in Bingen spiegeln die Vielfalt des Judentums wider. Die Synagoge in der Rheinstraße diente der orthodoxen israelitischen Religionsgesellschaft, während die Synagoge in der Rochusstraße von der liberalen israelitischen Religionsgemeinde genutzt wurde. Diese Trennung entstand aus unterschiedlichen religiösen Ausrichtungen, ähnlich den Konfessionen im Christentum. Beide wurde während der Novemberpogrome 1938 zerstört.
Erinnerung bewahren
„Die Reichspogromnacht 1938 markiert eines der dunkelsten Kapitel unserer Geschichte. Die Zerstörung der beiden Synagogen in Bingen und das Leid, das der jüdischen Gemeinde widerfahren ist, dürfen niemals vergessen werden“, sagte Oberbürgermeister Thomas Feser.
Er betonte, dass die Stadt Bingen auch heute noch eine besondere Verantwortung trage, die Erinnerung an die jüdische Kultur zu bewahren und Antisemitismus sowie Intoleranz entschieden entgegenzutreten. Dabei sei er dankbar, dass vom Arbeitskreis Jüdisches Bingen wertvolle Arbeit geleistet werde, um die Erinnerung an die jüdische Kultur aufrecht zu erhalten.
115 „Stolpersteine“ zeigen heute als stille Zeugen, wo früher jüdische Bingerinnen und Binger wohnten – und auch das „Fenster in die Vergangenheit“ am Ämterhaus in der Rochusallee weist auf die lange jüdische Tradition der Stadt hin.
„Über viele Jahrhunderte haben die jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger das Leben hier am Rhein-Nahe-Eck mitgeprägt. Sie waren Freunde, Bekannte und gute Nachbarn – bis zu dem schrecklichen Zeitpunkt ihrer Vertreibung. Das dürfen wir niemals vergessen. Es ist unsere Pflicht, die Erinnerung wachzuhalten und die Werte von Freiheit, Toleranz und Menschlichkeit zu verteidigen“, so Oberbürgermeister Thomas Feser abschließend.