Unser Leben besteht, wenn wir es recht bedenken, aus vielen, auch unangenehmen Pflichten. Und wenn wir uns vor eine solche gestellt sehen, dann versuchen wir zunächst einmal, die Angelegenheit hinzuziehen und uns davor zu drücken, so lange es nur irgend geht. Dazu gehört beispielsweise auch die Aufgabe, einem Menschen die volle - und meist nicht sehr erfreuliche - Wahrheit zu sagen. Je näher uns der andere Mensch steht, dem wir „reinen Wein einschenken“ müssen, wie die Redensart sagt, umso schwerer fällt es uns im Allgemeinen. Denn wir möchten ihm ja nicht wehtun und wissen doch genau, dass das, was wir ihm zu sagen haben, ihn betrüben muss. Denn an den Tatsachen lässt sich nun einmal nichts ändern, so vorsichtig wir sie auch in Worte kleiden mögen. So werden wir denn mit Takt und im Vertrauen darauf, dass unser Gegenüber unsere schwierige Mission recht verstehen wird, darangehen, dem anderen jenen klaren Wein einzuschenken, der ihm die Augen über ihm bisher unbekannte Vorgänge und Zustände öffnen soll. Und wenn wir Glück haben, geht alles viel leichter, als wir es uns anfangs vorgestellt haben, und schließlich wird uns der andere sogar für unsere Offenheit dankbar sein. Die Redewendung „einem anderen lauteren Wein einschenken“ kennt man im Übrigen schon seit dem 16. Jahrhundert; seit etwa zweihundertundfünfzig Jahren ist sie auch in der uns heute geläufigen Form belegt.