Der Friedenstanz aus dem Geißbock-Festspiel von Ernst Schäfer, das 1934 erstmals in größerem Rahmen aufgeführt wurde
1934 - Auf dem Weg zum Festplatz im Beerental
Fasnachtsumzug 1905 - Lambrecht feiert seinen 500. Geißbock mit einem Karnevalfest der Gesellschaft Frohsinn
Bei einem Festakt am 19. November werden an die Kandidaten, die sich in Deutschland erfolgreich um die Aufnahme in die UNESCO-Liste des Immateriellen Kulturerbes beworben haben, Urkunden übergeben. Neben siebzehn anderen gehört in dieser sechsten Antragsrunde auch die Geißbock-Tradition zwischen Lambrecht und Deidesheim dazu. Dieser Moment stellt den Schlusspunkt einer wichtigen weiteren Etappe des inzwischen sehr langen Geißbockmarsches dar. Mit Blick aufs Ganze ist der Weg für die kleinen Delegationen aus Deidesheim und Lambrecht ein kurzer - sie müssen nur nach Saarbrücken, denn die Feier richtet das jeweils dem Bundesrat vorsitzende Bundesland aus, dieses Jahr das Saarland. Wichtig ist die Aufnahme in die genannte Liste nicht zuletzt deshalb, weil auf diese Weise auch den nicht Eingeweihten und den Fremden klar wird, wie bedeutend unsere Tradition tatsächlich ist.
Heutzutage wird für alle die Angelegenheit um den Lambrechter Geißbock, der am Pfingstdienstagvormittag zum Deidesheimer wird, um am Abend mittels Auktion wieder ausgebürgert zu werden, vor allem durch die am Pfingstwochenende stattfindenden Veranstaltungen in beiden Orten fassbar. Lambrecht richtet in einem fünfjährigen Turnus das große Geißbock-Festspiel aus, in den vier dazwischenliegenden Jahren findet ein Heimatabend statt, in beiden Fällen mit entsprechendem Begleitprogramm; Deidesheim hingegen feiert als eines seiner großen Feste jedes Jahr am Dienstag nach Pfingsten den Geißbocktag. Dabei ist die Versteigerung des Tieres am Abend mit dem Glockenschlag sechs Uhr der Höhepunkt des Festes.
Was die Interessierten an beiden Orten geboten bekommen, ist allerdings von der Ursprungsform doch ein ganzes Stück entfernt. Es ist die von den Vereinen, die sich hier wie dort um die Pflege des Überkommenen kümmern, mit viel Engagement und unter Beteiligung weiter Teile der Bevölkerung gefundene Form, Vergangenes gegenwärtig zu halten und innerorts wie auch für alle anderen sicht- und verstehbar zu machen. In Lambrecht stellt sich der Verkehrsverein dieser Aufgabe, am anderen Ende des Geißbocksweges der Verein der Heimatfreunde Deidesheim und Umgebung.
2025 wurde der 622. Geißbock nach Deidesheim gebracht - zumindest, wenn man den offiziellen Verlautbarungen glaubt. Tatsächlich aber ist diese Zahl eine, die nachträglich errechnet wurde und sich auf eine im Jahr 1404 durch König Ruprecht gemachte Bestätigung zugunsten der damals das Kloster in Lambrecht bewohnenden Dominikanerinnen bezieht, nämlich dass diesen weiterhin Weiderechte im Tal gehören sollten. Dieser Akt wurde im ausgehenden 19. Jahrhundert als Anfang interpretiert und so ergibt sich die an sich schon stolze Zahl. Nächstes Jahr, 2026, wird sich demzufolge Bock Nummer 623 auf die Hufen machen. In Wirklichkeit wissen wir aber nicht genau, welche Ordnungszahl dieser wie jeder andere der bekannten Böcke hat, sie dürfte sogar höher liegen, denn es wurde 1404 ein ausgeübtes Handeln bestätigt, nicht neu installiert. 1534 wird die Pflicht erstmals dezidiert benannt, gepaart mit den Worten, dass sie in „weitentwichenen“ Jahren festgelegt wurde.
Für den Menschen des Mittelalters und der frühen Neuzeit bedeutet eine solche Formulierung, dass eine Sache länger als drei Generationen - wofür die Geschichtswissenschaft 100 Jahre ansetzt - zurückliegt. Auch hier kommen wir also mindestens an den Anfang des 15. Jh., vielleicht auch weiter zurück.
Hinter dem angedeuteten Prozess steht sowohl die Wirtschaftsform der Zeit als auch die Art, wie Handel und Austausch funktionierten. Ausgelöst wurde das Ganze durch den in Lambrecht vorhandenen Bedarf an Weideland für Großvieh. Die Talniederung hat zwar eine beachtliche Fläche, war damals aber sehr feucht. Richtig trockengelegt wurden große Teile erst im 19. Jahrhundert. Weidegründe mussten also auf höherliegendem Gebiet gesucht werden und hier waren sowohl Lambrecht als auch Grevenhausen sehr schnell auf Deidesheim gehörendem Grund. Deidesheim ist im Unterschied zu Lambrecht mit reichem Waldbesitz ausgestattet, die Flächen zum Speyerbachtal hin sind für die Haardtrandgemeinde weit Richtung Südwesten abgelegen. Von Lambrecht aus der Bedarf, von Deidesheim die Verfügbarkeit - so konnte man sich ins Benehmen setzen und das Großvieh auf Deidesheim gehörendes Gelände treiben, auch durfte man von Holz und Eckern etwas nehmen. Als Gegenleistung war dafür ein Geißbock zu liefern, obwohl das Kleinvieh bei der Weideerlaubnis gar nicht berücksichtigt war. Daraus lässt sich erkennen: Das Rechtsgeschäft wurde zum einen in einer prämonetären Form - eine Schuld wird nicht durch Geld, sondern durch eine Natural- oder Sachleistung abgegolten - geregelt. Ein Zeichen für alte, ursprüngliche Formen. Dazu fügt sich zum zweiten, dass sich nirgendwo eine Spur eines schriftlich fixierten Vertrages findet. Die zwischen den Partnern mündlich getroffene Vereinbarung galt und war „justiziabel“. Schließlich wurde drittens als Gegenleistung kein Stück des betroffenen Großviehs, etwa ein Kalb, verlangt, sondern ein Stück Kleinvieh. Aus allem ergibt sich, dass man sich damals wie es aussieht mit Augenmaß am Bedarf orientiert und vielleicht unter Berücksichtigung der auch zu dieser Zeit geringeren wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Talgemeinden einigte. In dieselbe Richtung weist, dass die Bocklieferung niemals durch eine Geldzahlung ersetzt worden ist. Bei anderen Vertragspartnern ist Deidesheim so verfahren, nicht aber gegenüber Lambrecht. Damit dürfte es einem Wunsch von dort entsprochen haben.
Dass die Lambrechter ihre Schuld jährlich an Pfingsten zu begleichen haben hängt weniger mit dem zu dieser Zeit eher besseren Wetter zusammen, als damit, dass das Jahr durch den Kalender kirchlicher Feste und Feiertage gegliedert war. Der Pfingstdienstag hat hier die Funktion des Zinstages, das sind solche, die gängigerweise als regelmäßige Termine für Geschäfte unterschiedlicher Art festgelegt werden konnten. Für Bauern etwa hatte ganz überwiegend der nach Abschluss der Erntearbeiten liegende, vor wenigen Tagen gefeierte Martinstag die analoge Funktion: sie hatten den Zehnten (Teil ihrer Ernte) abzuliefern.
Selbstverständlich ergeben sich immer wieder Probleme, 'mal mehr, 'mal weniger, so auch hier. Das hing nicht nur mit etwaiger Dickköpfigkeit der Lambrechter oder der Deidesheimer zusammen, sondern auch damit, dass sich die Bedürfnisse änderten. Die nicht immer mit Freuden erfüllte Aufgabe, den Bock zu liefern, wie auch die, ihn anzunehmen, wurde im Laufe der Zeit von beiden Seiten mehr als einmal abzuschütteln unternommen. Von heute aus betrachtet dürfen wir uns glücklich schätzen, dass die jeweils andere Seite sich verweigerte. Der Krawall ging auch unter fremder Herrschaft weiter, sogar Napoleon musste sich damit befassen; nach dem Zweiten Weltkrieg haben die Alliierten dem Bock sehr schnell Beine gemacht. Alleine weil nun keine dieser Sollbruchstellen zu einem Ende führte, besteht die Tradition bis heute und in unabsehbare Zukunft fort. Herausgehoben seien hier zwei dieser Momente, weil sie für die heutige Situation ganz besonders entscheidend waren.
Der schon länger schwelende Streit zwischen Deidesheim und Lambrecht schaukelte sich auf und zog ziemlich plötzlich die Aufmerksamkeit ganz Deutschlands auf sich, nachdem Deidesheim im Jahr 1851 die Abnahme des Bockes verweigert hatte, nicht zuletzt mit der Absicht, tatsächlich den Vertrag zu beenden. Lambrecht sah sich ins Unrecht gesetzt und wehrte sich juristisch, lieferte aber erst einmal keinen Bock mehr – Deidesheim wollte ja keine mehr annehmen. Der anstehende Prozess zog sich hin, nach mehr als sechs Jahren wurde ein Urteil gesprochen. Lambrecht gewann, der Vertrag bestand weiterhin, konsequenterweise musste nicht nur der strittige Bock, sondern auch die seitdem fällig gewordenen Kollegen geliefert werden. So machten sich Pfingsten 1858 acht Böcke nach Deidesheim auf den Weg, am Abend wurden sieben versteigert, denn Deidesheim hatte an einem wieder etwas zu „meckern“. Der geneigten Leserschaft des Social Media der Zeit, nämlich der Zeitungen, wurde der Vorgang bis in ferne Gegenden bekannt gemacht. Der Effekt war, dass eine große Zahl von Neugierigen -heute nennt man sie Touristen- sich auf den Weg nach Deidesheim machte, um das Spektakel mitzuerleben. Man darf mit Fug und Recht annehmen, dass der seinerzeitige Auflauf für die Deidesheimer der Impuls war, vollkommen zutreffend die enorme Zugkraft des Pfingstwochenendes mit der alljährlich unausweichlich anstehenden Geißbock-Übergabe und spätestens ab 1858 auch der -Versteigerung zu erkennen, mithin dem Fremdenverkehr für den Ort einen höheren Stellenwert einzuräumen. Das ist in der Folge dann auch geschehen. Die Weigerung von 1851 wandelte sich in ein seitdem durchgehaltenes Beharren.
Auch wenn am Pfingstdienstag die Versteigerung des Bocks der Zielpunkt ist, auf den in Deidesheim alles hinausläuft, so muss man sich klarmachen, dass gerade dieses Element innerhalb der Geißbock-Tradition nicht nur ein sehr junges ist, sondern eines, das dem Anfang frontal entgegensteht. Auch Geißen sind Nutztiere und selbstverständlich wurde der Bock für die Geißenzucht gebraucht und nicht, um ihn zu versteigern. Wer hätte 1405 oder 1560 einen Geißbock ersteigern sollen? Wer hätte ihn versteigert? So lange in beiden Orten Ziegen in größerer Zahl gehalten worden sind, war grundsätzlich Bedarf für Zuchtböcke vorhanden. Die Forderung „bene capabilis“ zielt genau darauf, dass das Tier für diese Aufgabe brauchbar sein musste – während „bene cornutus“ eher optische Gründe hat. – Die Zucht bestand durch das ganze Alte Reich hindurch und weit ins 19. Jahrhundert hinein. In Lambrecht zumindest, wie aus dem Prozess ab 1851 erkennbar, über die Jahrhundertmitte hinaus. Deidesheim hat sich da vielleicht schon anders orientiert und brauchte möglicherweise keinen Bock mehr. Was dann 1858 los war, erscheint als Zündfunke. Nicht etwa, weil man gar nicht wusste, was man plötzlich mit sieben Böcken anfangen sollte, sondern vielmehr weil man sich schon vorher hat überlegen müssen, wie man die Situation meistern wollte und weil der gefasste Plan offenbar erfolgreich umgesetzt werden konnte. Es ist vorstellbar die gerade aus der großen Anzahl an Böcken geborene „Verzweiflungstat“ der Versteigerung sich unmittelbar als genau richtig gezeigt hat und deshalb ins Programm genommen wurde, von wo sie heute nicht mehr wegzudenken ist.
Durch das Ende eigener Ziegenzucht wurde die Situation für Lambrecht schon am Beginn des 20. Jh. sehr schwierig. Mehr noch nach dem Ersten Weltkrieg, als mit der Textilindustrie das wirtschaftliche Rückgrat der Stadt Lambrecht stark einbrach. Mit dem Heer entfiel ein Großabnehmer und der Konkurrenzdruck aus dem Ausland hatte erheblich zugenommen. Der Pflicht stand für Lambrecht also so gut wie kein echter Gegenwert mehr gegenüber. Die Finanzlage war zeitweise derart eng, dass ein Privatmann einsprang, damit ein Tributbock geliefert werden konnte. Die Weltwirtschaftskrise und ihre Folgen tat das ihrige dazu. Anfang 1933 stellte sich dasselbe Problem mit derselben Dringlichkeit. Im Gespräch der Bürgermeister beider Orte half der Deidesheimer seinem Kollegen in der für Lambrecht so schwierigen Situation mit der Frage auf die Sprünge, warum man es denn in der Talgemeinde nicht auch so mache, wie in Deidesheim. Ihm wird klar gewesen sein, dass bei einem Abbruch der Geißbock-Lieferung Deidesheim entweder seine Hauptattraktion an Pfingsten verlieren würde, die immer viele Feiernde anzog und so gutes Geld in die Weinbaugemeinde brachte oder dass der Ort jedes Jahr selbst einen Bock besorgen und irgendwie an sich selbst ausliefern müsste, damit eine dann wohl anders zu nennende Versteigerung stattfinden konnte.
Wir dürfen auch hier von Glück reden, dass die Anregung aufgenommen wurde und damit das letzte ernsthafte Hindernis umschifft war. Am Pfingstmontag 1933 wurde das kurze Lustspiel "Der Geißbock-Streit" von Ernst Schäfer erstmals aufgeführt. Er nahm hier die Situation von 1851 auf die Schippe, bis heute ein Höhepunkt jeder Aufführung. Schäfer konnte auf eine ins 19. Jh. zurückreichende schmalere Tradition zurückgreifen, erweiterte sein Stück im Laufe des Jahres auf Initiative des von der NSDAP am 28.8. neu eingesetzten Bürgermeisters für Pfingsten 1934 zum "Geißbockfestspiel", das bis 1939 mit wachsendem Erfolg jährlich wiederholt wurde. Der Vergleich der Texte von 1933/34 und folgende mit denen von heute offenbart, dass Schäfer bei der erheblichen Erweiterung von der Sprache der Nationalsozialisten so gut wie vollständig unberührt blieb, obwohl die historischen Bilder im ersten Teil des Stückes reichlich Gelegenheit boten, sich dort einzuschleichen. Das Rahmenprogramm war pompös, jedes Jahr kamen tausende in die Stadt - die Talpost vermutete 1939, es seien über zehntausend gewesen-, ideologische Berieselung durch die Geißbock-Spiele fand jedoch nicht statt, auch wenn der Bürgermeister in Grußadressen sich noch so mühte. Im Grunde wenig verwunderlich wenn man bedenkt, dass der Geißbock im Kampf um Kraft, Anmut, Eleganz etc. auch nicht ansatzweise mit den Konkurrenten Löwe, Adler, Greif etc. oder auch nur dem idealen Germanen mithalten konnte, also als Identifikationsfigur, Leitbild oder Wappentier denkbar ungeeignet ist. Zurück zum Text der Festspiele: Es sind nicht mehr als zwei Worte, die bei der Wiederaufnahme der Aufführungen 1951 geändert wurden.
Wenn man so will, ist das ursprüngliche Einvernehmen, das im Laufe der Jahrhunderte mehrfach Stresstests unterzogen worden ist, inzwischen wieder hergestellt. Die beiden Gemeinden ziehen am gleichen Strang und so haben die genannten Vereine gemeinsam den nun erfolggekrönten Antrag gestellt, auf Lambrechter Seite angeführt von Hans-Joachim Hinrichs und dem leider dieses Jahr verstorbenen Herausgeber der Talpost Volker Edel, auf Deidesheimer Seite von Berthold Schnabel und dem ebenfalls 2025 verstorbenen Dr. Heinz Schmitt. Ohne den Einsatz dieser Männer wäre das gesamte Verfahren nicht durchzuführen gewesen. Die Aufgabe, das Kulturgut, in unserem Falle die Geißbocktradition, in die Zukunft zu führen, dürfte in gegenseitigem Einverständnis und Respekt zu leisten sein. Auch in der Vergangenheit waren die Verhältnisse zwischen beiden Orten oft genug sehr gut, es fand Austausch statt. So hat - nur zwei Beispiele - z.B. der Lambrechter Karl Rauch den Text der zum Pfingstdienstagprogramm gehörenden Szene vor dem Deidesheimer Rathaus geschrieben, oder es ist „in weitentwichenen Jahren“ (Mitte 19. Jh.) der Ururgroßvater des Autors dieses Textes von Deidesheim nach Lambrecht gezogen und hat dort eine Familie gegründet.