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Talpost Lambrecht
Ausgabe 48/2025
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„Gelistet! Und nun?“

Die stolzen Stadtoberhäupter mit den erfolgreichen Antragstellern: Dieter Dörr, Hans-Joachim Hinrichs, Berthold Schnabel, Andreas Ohler

Die Urkunde

Auftakt mit dem Saarknappenchor

Kultusministerin Streichert-Clivot

Prof. Jörissen, Vorsitzender Fachkomitee Immaterielles Kulturerbe

Er kummt, uffm Aaam!

Alle sind begeistert: Prof. Dr. Benjamin Jörissen, Hans-Joachim Hinrichs, Berthold Schnabel, Kultusministerin Christine Streichert-Clivot mit „Tributbock“, Andreas Ohler

Die verantwortlichen Antragsteller Hans-Joachim Hinrichs, Berthold Schnabel

Lambrecht und Deidesheim jetzt stolze Besitzer der Urkunde zur offiziellen Aufnahme der Geißbock-Tradition in das Immaterielle Kulturerbe der UNESCO

von Dr. Martin Fell

Saarbrücken. Ehe die im Titel zitierte, am 19. November in Saarbrücken auch thematisierte Frage überhaupt in den Fokus rücken kann, muss man erst einmal den Nachweis haben, dass etwas einschlägig „gelistet“ ist. Dazu ist erforderlich, die entsprechende Urkunde in Händen zu halten. Zu diesem Zweck haben sich Delegationen aus Lambrecht und Deidesheim (verantwortliche Antragsteller Hans-Joachim Hinrichs, emeritierter Vorsitzender des Verkehrsvereins Lambrecht und für den Verein der Heimatfreunde Deidesheim und Umgebung Berthold Schnabel, für den verstorbenen Volker Edel dessen Frau Ursula, die Bürgermeister Dieter Dörr aus Deidesheim und Andreas Ohler aus Lambrecht, sowie der Verfasser des fachlichen Begleitschreibens auf Lambrechter Seite Dr. Martin Fell) von einsetzendem Schneetreiben nicht abhalten lassen, rechtzeitig an die Saar vorzudringen.

Rahmenprogramm des Festaktes

Ort des Geschehens „Festveranstaltung 2025 zu den Neuaufnahmen in das Bundesverzeichnis des Immateriellen Kulturerbes“: der Festsaal des Saarbrücker Schlosses. Das Ereignis selbst stellte sich als rundum gelungen, ausgezeichnet organisiert und mit Herzblut geplant dar. Der Hauptteil mit der Urkundenübergabe wurde in zwei Phasen gegliedert, denen einleitend gut ausformulierte und inhaltlich bestens fundierte Redebeiträge vorangestellt wurden. In der Pause wie auch zum Abschluss wurde die Chance geboten, frei miteinander in Kontakt zu treten. Diese Gespräche fielen nicht schwer, weil jeder einen guten Eindruck von den anderen Kandidaten gewinnen konnte. Dazu wurde jeweils in Zusammenhang mit der konkreten Urkundenübergabe die Möglichkeit geboten, das eigene Thema in wenigen Worten vorzustellen. Wer in die Verlegenheit geriet, mehr als die drei veranschlagten Minuten dafür zu brauchen, wurde freundlich, aber bestimmt durch die Moderatorin Eva Corino entsprechend beschleunigt. Eine Handvoll der neu Aufgenommenen präsentierte auf einem im Festsaal aufgebauten „Markt der Möglichkeiten“ genau dieses: Möglichkeiten.

Würdigung durch Kultusministerin und Fachkomitee der UNESCO

Zum Auftakt des Festaktes sang der Saarknappenchor das Steigerlied. Doppelt angemessen, denn das Singen dieses Liedes, das jeder Bergmann im deutschen Sprachraum als „sein“ Lied betrachten dürfte, ist nicht nur selbst seit 2023 Teil des Immateriellen Kulturerbes, sondern auch die heimliche Nationalhymne des Saarlandes, wie die Veranstalterin des Festaktes, die saarländische Kultusministerin Christine Streichert-Clivot, selbst Tochter eines Bergmanns, ausführte. Die Ministerin sowie im Anschluss Prof. Dr. Benjamin Jörissen, Vorsitzender des Fachkomitees Immaterielles Kulturerbe, also quasi der Chef aller mit dem Prüfen der Anträge befassten Personen, drückten in ihren sachlich und fachlich fundierten Ansprachen ihre Freude über die diesmal sehr große Zahl der Neuaufnahmen aus wie auch über die Bandbreite, die bei dieser Bewerbungsrunde erreicht worden ist. Den Antragstellern wurde der gebührende Respekt gezollt und hervorgehoben, dass den Verantwortlichen sehr wohl bewusst ist, wie komplex sich das Aufnahmeverfahren darstellt und dass einige damit zu kämpfen hatten. Für das Geißbock-Team fast tröstlich, stellte also offenbar für eine ganze Reihe der Kandidaten gerade dieser Teil des Aufnahmeprozesses eine erhebliche Hürde dar.

Die Veranstaltung vom 19. November wurde quasi als zweiter Schritt eines Dreisatzes charakterisiert, denn der vorher bestehende Zustand der von sich aus getragenen Kulturpflege solle durch den Moment der Urkundenübergabe nicht abgeschlossen, sondern im Gegenteil in eine neue Zukunft geführt werden. Weil die Neuaufnahme eben nicht mit finanzieller Hilfe aus der öffentlichen Hand verbunden ist, muss Kreativität genutzt werden. Im Saarland wird etwa eine auf das Land bezogene, an die Kulturerbeliste der UNESCO angelehnte eigene Liste erstellt, deren Sinn neben dem Sammeln der einzelnen Formen vor allem darin besteht, eine Plattform für den Austausch zu bieten. Damit wird niederschwelliger auch über den Kreis der IKE-Kandidaten hinausgegangen, sowie gleichzeitig das Immaterielle Kulturerbe insgesamt stärker ins Bewusstsein gehoben und dessen Bedeutung untermauert. Ziel nicht zuletzt: Networking.

Zwischen diesen beiden Redebeiträgen und der Urkundenverleihung war ein Podiumsgespräch unter dem oben zitierten Titel „Gelistet! Und nun?“ eingefügt zwischen Dr. Marlen Meißner von der Deutschen UNESCO-Kommission und Leonie Schäfer von der Universität Mainz. In diesem Gespräch ging es nicht darum, Ratschläge zu erteilen, sondern es wurde der Blick kurz auf drei unterschiedlich lange in die Liste aufgenommene Kandidaten und deren Handeln als Teil des Immateriellen Kulturerbes gerichtet. Im Prinzip also darauf, wie für diese gelisteten Traditionen das „Was nun?“ angegangen worden ist. Deutlich wurde, dass aus den ganz unterschiedlichen Voraussetzungen heraus auch sehr unterschiedlich agiert wurde. Das bedeutet, dass viele Wege offen stehen. Hier wie auch bereits zuvor ist der Aspekt des Austauschs zwischen den Kulturerbeträgern unterstrichen worden.

Zur Urkundenübergabe

Von diesem ersten, den Veranstaltern gehörenden Teil, sozusagen der Pflicht, wurde durch einen Musikbeitrag zur Kür, der Urkundenübergabe, übergeleitet. Ariane Toffel, Carillon-Spielerin aus Aschaffenburg, spielte auf einem optisch überschaubaren, akustisch aber wirklich unüberhörbaren Glockenspiel von der Größe eines Klaviers das Präludium Nr. 5 von Matthias van den Gheyn, einem Komponisten und Glockenspieler aus dem Barock. Anschließend nahm, dem Anlass angemessen, den größten Raum das Überreichen der Urkunden ein.

Die Kandidaten

Kurz gefasst machen zwei der Kandidaten Musik, nämlich „Glockenguss und Glockenmusik“, sowie „Bau und Spiel der Waldzither“ (eine Lautenart), beide mit praktischen Vorführungen präsentiert; ein anderer – „Brettspiele spielen – Deutsche Brettspielkultur“ – lässt das Spielerherz höher schlagen. Sicherheitshalber wurde der praktische Teil in den Markt der Möglichkeiten geschoben, sonst hätte vielleicht der ganze Saal „Siedler“ oder „Mensch ärgere Dich nicht“ gespielt. Auch kam St. Nikolaus bzw. dessen Team aus dem gleichnamigen Ort zu Wort, das seit 60 Jahren jedes Jahr über 30.000 Briefe an den Nikolaus beantwortet. An Handwerklichem wurde „Das Goldschlägerhandwerk am Beispiel der Stadt Schwabach“ (Produktion von Blattgold von 1/10.000 mm Dicke per Hand) neben dem „Glas Kultur Campus in Frauenau“, dem „Gold- und Silberschmiedehandwerk“, dem „Töpfer- und Keramikhandwerk in Deutschland“ sowie dem „Kunsthandwerk im Erzgebirge“ gewürdigt. Auf das Ergebnis der Vorführung für die bis vor Kurzem dem Untergang geweihte, neuerdings wieder auflebende „Analoge Fotografie“, ein Selfie, konnte die Versammlung nicht warten, weil dazu einiges an Chemie, eine Dunkelkammer, Wasser und Zeit erforderlich sind – anders als beim Handy. Sichtbar gemacht, obwohl unendlich weit weg, wurde mit „Immersive Vermittlung der Natur und des Universums in Planetarien“ das gesamte Weltall. Wie aus einem anderen Universum, angeführt von einem Drachen der „Chinesenfasching Dietfurt“, ein Ort in Bayern, dessen Bewohner seit mehreren hundert Jahren den Spitznamen „Chinesen“ und daraus, nach früheren Ansätzen, 1954 die jetzt geehrte Tradition entwickelt haben. Sehr viel bodenständiger die saarländische Variante „Fastnacht an der Saar“, wo es mehr als 180 Karnevalsvereine gibt, und damit vermutlich eine größere Zahl als Gemeinden. Ganz anders als alle anderen die „Rotwelsch-Dialekte“: hier werden über hunderte von Jahren in der Halbwelt und in Sonderwelten weitergegebene Sprachformen, die nur für Eingeweihte verstehbar waren, dem Vergessen entrissen. Einzelne Worte daraus sind in die Popkultur geraten, das Sprechen zu sichern ist jedoch ganz drängend, weil die letzten Sprecher dieser lokal unterschiedlichen Sprachen aus Altersgründen in rasantem Tempo wegsterben. Auch Tiere kamen vor, nämlich beim „Gebrauchshundewesen“, ein belgischer Schäferhund, der seine Fähigkeiten beim Aufspüren von Geruchsproben auf offener Bühne vorführen durfte, sowie zwei Böcke. Der eine, der Heckenbock, welcher der „Gehöferschaft Wadrill“ zugehört, einer jahrhundertealten Gemeinschaft, die ihre Wirtschaftsflächen gemeinschaftlich und immer wieder neu ausgelost parzelliert und bearbeitet. Der Heckenbock ist dort jemand, der sich bei der Arbeit ganz besonders hervortut, ein Ehrentitel. Dem steht der zweite Bock in nichts nach, nämlich der Pfingstbock unserer Geißbock-Tradition.

Präsentation der Geißbock-Tradition

Diesen vorzustellen übernahm Bürgermeister Andreas Ohler gemeinsam mit Berthold Schnabel, der den schönen Text zu der kleinen Szene beigesteuert hat. Abwechselnd wurden von beiden und im letzten Satz gemeinsam besonders wesentliche Punkte der „Geißbocktradition zwischen den Städten Lambrecht und Deidesheim“ dem Auditorium zur Kenntnis gebracht. Die Übergabe der Urkunde erfolgte nun durch die Ministerin Streichert-Clivot und Prof. Dr. Jörissen mit Handschlag an die Vertreter der Trägervereine der Geißbock-Tradition. Die Ministerin konnte sich nach dem Fototermin vom Lambrechter Bock kaum trennen, der aber wieder zurück in die Heimat musste. Sie wurde dann mit einem Deidesheimer Exemplar aus Plüsch getröstet. Wenn sie nur wüsste, dass dieser Bock auf den Namen Napoleon hört, auf den Saarländer nicht unbedingt gut zu sprechen sind. Auch beim großen Fototermin hat sie ihn präsentiert, ehe es in den geselligen Teil ging. Dort wurde mit Sekt und einem Imbiss eine Plattform geboten, um die bereits oben genannten Gespräche (wieder) aufzunehmen, mit denen jeder, der wollte, sein Netzwerken beginnen konnte.

Blick in die Zukunft

Dem Verkehrsverein Lambrecht ist mit dem Überreichen der Urkunde zur Aufnahme der Geißbock-Tradition in die Liste des Immateriellen Kulturerbes ein Pfund übergeben, mit dem es zu wuchern gilt. Es geht keinesfalls darum, ein Exemplar der Urkunde zu rahmen und aufzuhängen. Das ist eher nachrangig, wie auch weniger im Vordergrund steht, wer die Leistung vollbracht hat, als vielmehr, für wen das geschehen ist. Ist es doch viel wichtiger, auch in Lambrecht die Geißbock-Tradition tatsächlich sehr viel stärker sichtbar zu machen, die durch die Aufnahme in die UNESCO-Liste quasi geadelt worden ist. Sie darf jetzt zusammen mit dem entsprechenden Logo der UNESCO präsentiert werden. Das ist gleichzeitig Ehre und Verpflichtung. Die Aktionen, die seit Bekanntwerden des Erfolgs bereits unter der Führung Christine Kleins als der neuen Vorsitzenden des Verkehrsvereins ausgeführt worden sind – erwähnt sei als Beispiel die Präsentation der Geißbock-Tradition beim großen Winzerfestumzug in Neustadt – sind sehr gute Schritte auf dem Weg, klar zu machen, dass der Geißbock in dieser Tradition aus Lambrecht kommen muss und daraus Konsequenzen zu ziehen.

Wer über neue Wege nachdenkt, wie man den Geißbock zu Lambrechts Gunsten in Trab versetzen könnte, der darf seinen Geist in alle Richtungen fliegen lassen und sei es standesgemäß unterstützt durch Himbeer- oder anderen hochprozentigen Geist: ist die bundesweite traditionelle Schnapsbrennerei doch ebenfalls seit diesem Jahr als Immaterielles Kulturerbe anerkannt. Das ist nur konsequent, nachdem Bier- und Weinherstellung, auch die von Apfelwein, bereits in diesen Kreis gehören. Ob dabei Brände nach Geheimrezept als ganz besonders immateriell gelten, das liegt wohl im Auge des Betrachters (um der Wahrheit die Ehre zu geben: auf dem Markt der Möglichkeiten wurden für den gesprächsweisen Austausch auch Liköre angeboten). Die Ergebnisse werden bestimmt für sich sprechen. Wissen die Lambrechter doch ohnehin, dass man nicht alles so bierernst nehmen muss. Wir dürfen gespannt sein, welche Ideen aufkommen. Im Grunde ist die ganze Stadt aufgerufen, sich zu beteiligen. Denn gute Ideen können nicht nur wenigen Hirnen entspringen. Außerdem darf der Blick auch Richtung Nordosten gehoben werden, denn anders als vor längerer Zeit besteht nun das gute Verhältnis zwischen beiden Städten und man darf gemeinsam überlegen. Schon bei dem durch Deidesheim organisierten, zu Pfingsten erfolgten Prägen der Gedenkmedaille zur Aufnahme der Geißbocktradition in die Liste des Immateriellen Kulturerbes ist das geschehen.