„Lebendige Fotografie lässt Neues entstehen, sie zerstört niemals. Sie verkündet die Würde des Menschen. Lebendige Fotografie ist bereits positiv in ihren Anfängen, sie singt ein Loblied auf das Leben.“ (Berenice Abbot) „Es gibt oft eine zweistufige Wahrnehmung. Zunächst etwas Augenfälliges, das unmittelbar zur Titelidee „Bethlehem“ führt. Bei Bethlehem der Weihnachtsstern, an den die Straßenlampe erinnert. Dann aber als zweiter Schritt die Prüfung: Stimmt es auch? Bei „Bethlehem“ hatte ich die Vorstellung, dass Maria und Josef auf ihrer Suche nach einer Herberge in Ludwigshafen - das sie gewiss nicht per Esel, sondern eher per Flixbus aus dem Südosten kommend erreichen würden - mit Sicherheit keinen malerischen Stall fänden. Unsere Ställe sind Unterführungen, Passagen, Schächte, wie die auf dem Bild in der Nähe von Bus- und Zugbahnhof - in Sichtweite von Ramada und Excelsior. Angsträume, in denen man sich auf einem Pappkarton unter einem alten Schlafsack im Windschatten kauern kann, wenn sonst nichts mehr geht. Und das Kindlein läge dort auch nicht auf Heu und Stroh, sondern in Zeitungen und Plastiktüten. Aber trotz des Elends sähe es bereits aus mittlerer Entfernung genauso friedlich und hoffnungsvoll aus, wie auf dem Foto. Hoffnung und Friede bereits bevor das Elend überwunden ist. Ein Stück der Wahrheit von Weihnachten, das sich in Ludwigshafen aufspüren lässt. Für mich stimmt das. Die große Frage, auf die ich keine gute Antwort habe, betrifft das Hirtenvolk. Gibt es das noch? Und wenn ja, wo steckt es?“. (Hartmann Leube)
Spätestens seit Sartres „Das Sein und das Nichts“ weiß man, dass die Dinge niemals vollständig wahrgenommen werden können, sondern immer nur in fragmentarischen Ausschnitten und Abschattungen. Der Grund liegt in der Perspektivität unserer Erfahrungen und in der Begrenztheit unserer Existenz. Jeder wahrgenommene und auch fotografierte Gegenstand steht daher in einer fundamentalen Beziehung sowohl zum Sichtbaren wie auch zum Unsichtbaren. Seine Oberflächen sind zugleich die Grenzen zum Unsichtbaren, das an ihnen haftet bzw. zum Nichts, das an sie grenzt. Beobachten können wir immer nur Oberflächen. Was hinter ihnen liegt, können wir nur vorstellen, denken oder wissen, aber nicht sehen.
Was ist sichtbar an diesem Foto? Mich fasziniert das Farbenspiel dieses Fotos von Dr. Leube aus Ludwigshafen, das Motiv kennen sicher einige von Ihnen von Besuchen von Ludwigshafen her: Ein nachtiefblauer Himmel, der sich genauso auszuspannen scheint wie der dahinter liegende Pylon der Autobrücke zwischen Ludwigshafen und Mannheim. Die wie Spinnenfäden auf die davorliegende andere Brücke darniederfahrenden Stahlseile verleihen dem Ganzen zusätzliche Stabilität, sie tragen die Brücke und strahlen zugleich aus und scheinen die Erde festzuhalten. Der Kopf des Pylonen verweist in den nachttiefblauen Himmel.
Im Vordergrund eine Fußgänger-Unterführung, im Licht-Schatten-Spiel grell aufscheinendes Gelb und leichten Schwarz-Tönen, durch die hindurch aber dennoch ein fast sich im Boden spiegelndes Geld hindurchläuft und den Weg weist, von dem man auf diese Weise schwerlich abkommen kann. Nichts Beängstigendes hat die Unterführung, sondern eher etwas Bergendes, Sicherheit Gebendes. Selbst die vielen an die Wand gesprühten Graffiti haben nicht Unangenehmes, wie wir es sonst bei zahlreichen Schmierereien an Brücken und Hausfassaden empfinden.
Rechts oben im Bild dringt der Lichtstrahl einer einzelnen Straßenlaterne durch und verleiht den Baumwipfeln transparente Strukturen, die in den Nachthimmel hineinragen.
Links hingegen ein betonenes Hochhaus, die Treppenhausflure hell erleuchtet, im Kontrast zu den dunkel bleibenden Balkonen des Hauses. Die wie Perlen an einer Kette aufeinandergereiht sind.
Aber über dem allen erstrahlt hell ein Lichtkegel einer Straßenlaterne, der sich in der Fotografie in viele Strahlenbündel bricht und der ganzen eingefangenen Atmosphäre auf dem Foto zusätzliche Würde und hymnische Feierlichkeit verleiht. „Strahlen brechen viele aus einem Licht.“, heißt es im Lied Nummer 268 im Evangelischen Gesangbuch. Die Assoziation von Hartmann Leube, in diesem Strahlenbündel den Weihnachtsstern zu erblicken, ist also nicht von der Hand zu weisen und hat sich auch bei mir eingestellt. In dem Lied heißt es weiter: „Unser Licht heißt Christus. Strahlen brechen viele aus einem Licht und wir sind eins durch ihn.“
Dies zeigt, dass die sichtbaren Phänomene auf Fotografien stets von einem Hof aus Vorstellungen und Imaginationen umgeben sind. Das Abwesende bleibt nicht unbeobachtet, sondern wir können das ergänzen, was wir nicht beobachten können. Der polnische Philosoph Roman Ingarden hat in diesem Zusammenhang den Begriff der Leerstelle in die Ästhetik eingeführt. Er argumentierte, dass in Literatur und Kunst zahlreiche Bestimmungen offengelassen werden, die später durch subjektive Konkretisationen des Betrachtenden aufgefüllt werden können, ja sogar müssen.
Hans Dieter Huber, deutscher Künstler, Philosoph und Kunstwissenschaftler hat dazu formuliert: An jedem Kunstwerk kann eine Differenz beobachtet werden, die weder überbrückt noch re-integriert werden kann. Der Unterschied zwischen dem, was auf der Oberfläche des Werks vorhanden ist und dem, was nicht vorhanden ist. Diese Differenz hängt mit den Referenzen des Werks zusammen. Ein Kunstwerk kann als Symbolsystem auf nicht Anwesendes Bezug nehmen. Diese Differenz läuft dann aus dem, Kunstwerk hinaus. Kunst ist in dieser Funktion nur ein Stellvertreter für Abwesendes.“
Somit macht dies Kunstfotografie aufmerksam auf einen Bereich der Welt, der außerhalb des Kunstwerks liegt. Sie lenkt den Blick und die Aufmerksamkeit des Beobachters von sich selbst ab auf etwas Anderes, wird zum Medium externer Referenzen, in diesem Falle einer bethlehemitischen Imagination. Wie durch ein Fenster, das weihnachtlich geschmückt ist, weitet die Sichtbares festhaltende Fotografie den Blick auf etwas Unsichtbares hin: Die in der Fotografie wiedergegebene atmosphärische feierliche Stille erinnert an die Zeile Dietrich Bonhoeffers Lied „Von guten Mächten“, die er kurz vor seiner Ermordung durch die Nazis um die Jahresende 1944/45 herum aus der Zelle im KZ Flossenbürg heraus gedichtet hat: „Wenn sich die Stille nun tief um uns breitet, so laß uns hören jenen vollen Klang der Welt, die unsichtbar sich um uns weitet, all deiner Kinder hohen Lobgesang.“ (EG 65). Als ich vor drei Jahre bei einer Jahrestagung der bundesweiten Erinnerungsarbeit an der Stelle in dem Hof seiner Erhängung stand, gefror mir das Blut in den Adern- und dachte an dieses Wort und wünschte mir, dass er mit seinem letzten Atemzug an diesen “vollen Klang der unsichtbaren Welt“ gedacht heben möge, was ihm zu Trost hatte gereichen können.
So wie in Kunst und Fotografie Abwesendes in Anwesendem imaginiert werden kann, so können auch Leerstellen sehr beredt sein: Bei einem Besuch in der Gedenkstätte in Leipzig war am augenfälligsten eine Ausstellungsvitrine, die komplett leer war und eben gerade NICHTS ausstellte. Dies beeindruckte mich, denn es ist der Verweis darauf, dass vom Leiden und Sterben der Zwangsarbeitenden, Kriegsgefangener und KZ-Häftlinge am Standort der HASAG, dem ehemals größten Rüstungsbetrieb Sachsens, viele Dokumente nicht mehr vorhanden sind und viel nicht gezeigt werden kann, was dort an Unmenschlichem passiert ist.
Dass im Bereich der Bildlichkeit eine Leerstelle eine besondere Dynamik entfaltet, sieht man auch in dem Kunstwerk von Karl Immermann, einem dezidierten Verfechter der Leerstellenästhetik: Um die Theorie anschaulich zu machen, erfand er den Maler Sterzing, der ein Bild mit dem Titel „Flucht der Daphne“ schuf. Auf dem Bild ist nichts zu sehen. Die Erklärung ist einfach: Daphne ist eben schon weg und ihr Verfolger noch nicht da.
Die Kunst spielt mit Leerstellen, der Imagination des Abwesenden- gerade so wird das Bedürfnis nach sinnvollen Zusammenhängen geweckt. Auf diesem Foto fehlt eigentlich ziemlich alles, was unser sonst verklärendes und beschönigendes Bild von weihnachtlicher Szenerie beherrscht. Die Krippe, in der auf Stroh das neugeborene Kindlein gebetet ist, Maria und Joseph, die Hirten, die Tiere, der Stern, der Hirten den Weg weist. Und obwohl dies alles fehlt strahlt das Bild eine Stimmung aus, die adventliche ist: Noch ist es nicht das, aber es kündigt sich an: im Farbenspiel von Geld und Blau, im hellen Strahlenbündel der Straßenlaterne, im bergenden Charakter der Unterführung, wo man sich die ärmliche Szenerie des Stalles von Bethlehem hineindenken kann.
Dadurch löst die Fotografie Nachdenken, Erstaunen, Einsicht aus, indem sie die Erwartung nach „einfachem, auf der Hand liegenden Verstehen“ gezielt bricht und enttäuscht, dafür aber das Bedürfnis nach eigenem Denken befriedigt. Denis Diderot hat einmal formuliert: „Wenn man malt, muss man alles malen? Habt Erbarmen und lasst eine Lücke, die meine Phantasie ausfüllen kann.“ Kunstfotografie hat Erbarmen: Sie deutet nicht restlos aus, lässt Raum, um Abwesendes anwesend zu imaginieren, regt unsere Fantasie an und fördert Denken in Möglichkeiten.
Sie setzt uns in Bewegung und kann Ungereimtes, Widersprüchliches, Irritierendes sinnlich und verwunderlich vor Augen stellen. „Lebendige Fotografie lässt Neues entstehen, sie zerstört niemals. Sie verkündet die Würde des Menschen. Lebendige Fotografie ist bereits positiv in ihren Anfängen, sie singt ein Loblied auf das Leben.“ (Berenice Abbot).
„ein Loblied auf das Leben singen“, wie Berenice Abbot es beschreibt, und die Würde des Menschen verkünden, das ist die Botschaft von Weihnachten, die wir in diesen Zeiten so bitter nötig haben: Die Kriege in der Ukraine, im Nahen Osten, im Sudan, Armenien und in vielen anderen Teilen dieser Erde, die Corona-Pandemie, gesellschaftlicher Zusammenhalt der zu verloren gehen droht, Energiekrise-das alles beschäftigt uns als Gesellschaft und bestimmte auch in diesem Jahr die Arbeit in den evangelischen und katholischen Büros auf Länderebene: Viele Arbeitskreise und Gesprächsrunden mussten nach der Pandemie wieder neu initiiert und Menschen dazu motiviert werden. Das hat viel Kraft gekostet, hat sich aber, so kann ich es am Ende dieses Jahres resümieren, doch gelohnt. Zuletzt hatten wir für die dritte Adventsaktion der „Allianz für den freien Sonntag“ vier promiente Saarländer gewinnen können, die Texte verfassen, die zu jedem der vier Adventsonntage auf gewerkschaftlichen und kirchlichen Homepages erscheinen werden, wo sie davon erzählen, warum ihnen die Sonntage im Allgemeinen und die Adventssonntage im Besonderen wichtig sind. Nicht nur Innenminister Reinhard Jost und der DGB-Chef Timo Ahr schreiben Statements, sondern auch der Komponist Frank Nimsgern und der Manager und Trainer des 1.FC Saarbrücken, in dessen Sportheim auch die Aktion im Pressegespräch vorgestellt worden ist.
Angesichts der Kriege in aller Welt haben Menschen aus der AG Frieden Südrhein/Pfalz ein ökumenisches Friedensgebet am Buß- und Bettag in der Ludwigskirche gestaltet, wir haben der Synagogengemeinde öffentlich unsere Solidarität bekundet nach dem grausamen, menschenverachtenden Angriff der Hamas- auf Zivilisten in Israel in der Nähe des Gazastreifens. Nach wie vor engagieren wir uns gegen Antisemitismus, Rassismus und alle Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Wir bringen uns im Beirat gegen Armut und dem Sozialgipfel Saarland ein, treten ein für gute Verhältnisse in Kindertagesstätten und Schulen und bringen unser Profil in die Arbeit an und mit der Gesellschaft und als begleitendes „Beiboot“ bei der Steuerung des Landes ein.
Kraft für Engagement in Kirche, Gesellschaft und Diakonie dürfen wir alle schöpfen aus der Botschaft des Jesus von Nazareth, der uns zu gottwohlgefälligem Leben, Menschlichkeit, Friedens- und Versöhnungsbereitschaft motiviert.
Die assoziative Beschreibung der Fotografie zeugt davon, dass Lücken offengehalten werden müssen und der Hinweis darauf sind, dass Gott sich in allem und vielem finden lässt, weil die sichtbare Welt als Gleichnis für die unsichtbare Welt, die sich im uns weitet, verstanden werden kann. Neben der knallharten und oft unbarmherzigen sichtbaren Welt, die viele Menschen kaputt macht, gibt es eine zweite Wirklichkeitsebene, die sich von Gott in Jesus Christus her bestimmen lässt. Gott lässt sich finden im Alltag der Welt - Gott sucht den Menschen - und wir sind eingeladen, uns von ihm finden zu lassen und seine frohe Botschaft zu hören und zu beherzigen - in unserem persönlichen Bereich - und auch in dem gesellschaftlichen, in den wir uns einbringen. Vielleicht lassen wir ja dieses Jahr einmal den Warenkorb bewusst leer oder leerer- und entdecken die Fülle des Lebens durch ein Fenster zur Ewigkeit, die uns in Spiritualität, Kunst, Musik, Sport und Schauspiel geboten werden.
Die Zeit um Weihnachten ist die Zeit, in der ein intuitives Wissen den Menschen herausholen will aus Kälte und Einsamkeit. Nicht umsonst suchen wir die Wärme der Familie und die Nähe von Freunden. Menschen wollen zusammen sein, feiern, sich beschenken, selbst wenn das „Christliche“ an der Sache oft nicht mehr spürbar ist. Wer christliche Rituale noch vollziehen kann, sollte es tun, für die Anderen mit, ohne sie zu vereinnahmen.
Gott hat seine Zeit mit jedem einzelnen Menschen. Oft braucht es neben dem Zweifeln und dem Hin- und Hergerissen-Sein zwischen Realität und Glaube einfach eine Portion Neugierde über den Alltag hinaus, um in etwas Alltäglichem das Heilbringende zu entdecken und davon tief betroffen zu sein, so wie man aus einer Fotografie einer Unterführung in der nur angeblich „hässlichsten Stadt Deutschlands“ (die sie definitiv gar nicht ist, wie ich aus eigener 17jähriger Anschauung weiß) etwas adventlich Erwartungs- und Hoffungsvolles und weihnachtlich Bergendes und Tröstendes entdecken kann. Vielleicht ist da auch eine tief verborgene Sehnsucht nach Heilung und Ganz-Sein, die einem Perspektiven eröffnen, die sonst verschlossen blieben.
Gott in Jesu Christus vermag uns im Innersten zu berühren. Wir können aus unserer Dumpfheit aufwachen, werden lebendig und zuversichtlich, werden weihnachtliche Menschen.
“Advent ist immer“ hat der eine Zeitlang in Ludwigshafen wohnende Philosoph Ernst Bloch formuliert. Das stimmt. Fangen wir an es wahrzunehmen und uns davon berühren zu lassen, auf dass wir unsere Füße auf den Weg des Friedens und der Menschlichkeit richten.
Dies wünsche ich Ihnen allen in diesen bewegenden Zeiten.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen allen und Ihren Angehörigen ein gesegnetes Weihnachtsfest und ein gutes neues Jahr 2024. Es wird auch geprägt werden vom Zuspruch des Wortes aus der Jahreslosung aus dem Ersten Korintherbrief Kapitel 16 Vers 14: „Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe“.
Bleiben Sie wohlbehalten und Gott anbefohlen,
Ihr
Beauftragter der Evangelischen Kirchen für das Saarland