Die Spinning Jenny, 1764 als Hausspinnmaschine erfunden und bis 1774 zur Industriemaschine entwickelt
Originalgetreuer Nachbau der Spinnmaschine Water-Frame (Industriemuseum Textilfabrik Cromford, Ratingen).
Die Färberei Meier 1915 am Ort der ehemaligen „Unteren Tuchfabrik“ als deren zweiter Nachfolger nach der Tuchfabrik Kölsch Hellmann.
Im Nachklang eines Besuchs im Webermuseum in Lindenberg kam die Frage auf, ob die Industrialisierung der Tuchmacherei von den Lambrechter Tuchmachern zu spät angegangen wurde? Ihr Hintergrund bildete die Erfindung der Spinning Jenny in England als erste reife Spinnmaschine im Jahr 1774 und ab da die große Zeitspanne von 49(!) Jahren bis zur Errichtung der „Unteren Tuchfabrik“ beim Nonnental im Jahr 1823, mit welcher als erste mechanische Spinnerei die englische Spinntechnik im Lambrechter Tal ihren Einzug hielt.
Ausgangspunkt ist, dass 1733 der Schnellschuss erfunden wurde. Er erlaubte, einmännig doppelt so schnell und breit zu weben als zuvor. Dadurch steigerte sich der Garnbedarf um das Mehrfache, wobei die herkömmliche Handspinnerei dieser Entwicklung nicht mehr nach kam. Es kam zu Garnhunger bzw. Garnnot, was den Webern häufig Zwangspausen bescherte.
In England erfand James Hargreaves im Jahr 1764 seine Spinning Jenny. Konnte eine Person mit dem Spinnrad in der Regel nur eine Spindel bedienen, so ermöglichte diese neue Spinnmaschine, dass eine Person anfangs 8, dann 12 und danach 16 Spindeln bedienen konnte. Bis 1774 wurde die Anzahl der Spindeln auf 100 gesteigert, womit die ursprüngliche Hausspinnmaschine zur Industriemaschine wurde, indem sie die Tagesleistung eines Spinnrads von etwa 3000 Meter Garn hundertfach übertraf!
Garnhunger bzw. Garnnot schienen besiegt, so könnte man meinen. Aber selbst in England war dem nicht gleich so! Die ersten Spinning Jennies waren nämlich noch nicht perfekt. Sie wurden noch per Hand betrieben. Der Spinnprozess musste für Umstellungen mehrmals unterbrochen werden. Dazu konnten sie nur Schussgarn spinnen. In der in England noch überwiegend ländlichen Hausindustrie wurden Spinning Jennies zwar benutzt, mit kleinerer Spindelzahl, jedoch nicht in industrieller Ausführung, da diese zu teuer waren. Auch zerschlugen aufgebrachte Spinner massenweise Spinning Jennies mit mehr als 20 Spindeln!
Dennoch war die industrielle Spinning Jenny eine revolutionäre Entwicklung, die Englands Tuchmacherei einen großen Vorsprung verschaffte. Was bald auch auf dem Kontinent, der damit abgehängt zu werden drohte, erkannt wurde. Hier wuchs somit größtes Interesse daran, die neue englische Technik sich selbst auch nutzbar zu machen.
Wobei dies nicht so einfach war, insoweit England den Techniktransfer zu unterbinden suchte, was 1792 zu einem Ausfuhrverbot auf englische Maschinen führte. Somit waren diese nicht einfach so zu erwerben, also musste man sich etwas einfallen lassen.
Letzteres tat der Textilkaufmann Johann Gottfried Brügelmann. Er erkannte die große Chance, mit der englischen Spinntechnik neue unternehmerische Maßstäbe zu setzen. Also sandte er Spione nach England, um dort die neue Spinntechnik auskundschaften zu lassen. Auch warb er englische Fachkräfte an. Und letztlich gelang ihm auch Teile von englischen Maschinen aus England zu schmuggeln.
Allerdings richtete Brügelmann den Fokus nicht auf die Spinning Jenny, sondern auf die konkurrierende, von Richard Arkwright entwickelte, Water-Frame als Spinnmaschine, die auch feste Kettgarne spinnen konnte und für den Wasserantrieb konzipiert war. Mit den so gewonnenen Erkenntnissen gelang ihm der originalgetreue Nachbau der englischen Maschinen.
Damit realisierte Brügelmann in Ratingen (Rheinland), am Fluss Anger, 1783 die erste Baumwollspinnerei auf dem europäischen Kontinent, die mit neuer englischer Spinntechnik ausgerüstet war. In Anlehnung an die von Arkwright errichtete erste Spinnfabrik in Cromford, England, erhielt die Fabrik den Namen Textilfabrik Cromford.
Die Fachleute für den Betrieb der Fabrik stammten oft aus der Textilregion Aachen/Eupen/Verviers, wohin Brügelmann einige gute Kontakte pflegte. Damit war er einer Region zugewandt, aus der die Wallonen kamen, welche 1565 die Tuchmacherei nach Lambrecht brachten.
Insbesondere mit Verviers verbanden die Lambrechter Tuchmacher ihre wallonische Wurzeln. Die Wallonenstadt war Schutzstadt für emigrierte Wallonen und deren Nachfahren. Speziell ihre Textilregion wies Schnittmengen mit der alten Brabanter Tuchmacherei auf, die größter Konkurrent der englischen Tuchmacherei auf dem Kontinent war. Neuerungen der Tuchmacherei nahm man hier rasch wahr, so dass die mit ihrer „alten Heimat“ gut vernetzten Lambrechter Tuchmacher gewiss früh davon erfuhren.
Hätten die Lambrechter Tuchmacher mit ihrer frühen Kenntnis die Industrialisierung damit nicht schneller angehen können? Nun, was die englischen Spinnmaschinen anging, ob original oder exakt nachgebaut, so waren diese für die Lambrechter Tuchmacher erst mal noch ungeeignet. In deren frühen Entwicklung vermochten diese nur Baumwolle zu spinnen, Schafwolle dagegen nicht! Erst ab dem Jahr 1800 konnten Spinning Jennies auch Schafwolle spinnen und so für die Lambrechter Wollweber infrage kommen.
Hätten die Lambrechter Tuchmacher nun jetzt die Gelegenheit zur Industrialisierung ergreifen können? Die Antwort ist Nein! Denn inzwischen waren gewaltige Veränderungen eingetreten. Am 14. Juli 1789 hatten die Bürger in Paris die Bastille erstürmt. Auslöser der ab 1792 beginnenden Revolutions- bzw. Befreiungskriege.
Die französischen Freiheitskämpfer erwiesen sich als wehrhaft. Sie fügten ihren Gegnern, Preußen und Österreich, Verluste zu. Nach der entscheidenden Schlacht auf dem Schänzel bei Edenkoben, am 13. Juli 1794, mit hohen Verlusten seitens Preußens, zog sich dieses in einem Separatfrieden mit Frankreich (5. April 1795) aus den Kämpfen zurück. Die Pfalz gelangte unter französische Herrschaft.
Die Lambrechter Tuchmacher erlebten einen Seitenwechsel! Sie verloren ihr angestammtes Absatzgebiet und mussten ihre unternehmerischen Verhältnisse nun völlig neu ordnen. Dieses in starker Konkurrenz zur französischen Tuchmacherei, wie etwa im nahen elsässischen Bischwiller. Glück war, dass sie Aufträge für Militärtuch, eine Domäne der Lambrechter Tuchmacherei, akquirieren konnten. Allerdings, wegen der turbulenten Zeiten war an eine Industrialisierung ihrer Tuchmacherei mit englischer Spinntechnik nicht
zu denken.
Zumal sich mit Napoleon die Ereignisse überschlugen: 1805, am 2. Dezember, „Dreikaiserschlacht“ bei Austerlitz mit Sieg Napoleons, 21. November 1806 dessen Verhängung der Kontinentalsperre gegen England, am 24. Juni 1812 Beginn des Russlandfeldzugs von Napoleon mit Untergang dessen „Grande Armée“. Danach Niederlage Napoleons bei der Völkerschlacht bei Leipzig, 16.-19. Oktober 1813, und dessen Abdankung am 6. April 1814 mit Exil auf Elba, Rückkehr Napoleons nach Frankreich (1. März 1815), endgültige Niederlage Napoleons in der Schlacht bei Belle Alliance (Waterloo) am 18. Juni 1815.
Nach dem Ende der napoleonischen Herrschaft griffen Regelungen des Wiener Kongresses zur Neuordnung Europas, welche dazu führten, dass die Pfalz am 14. April 1816 zu Bayern kam und so zu Rheinbayern wurde. Ein erneuter Seitenwechsel für die Lambrechter Tuchmacher!
Wieder mussten sich diese in einem neuen Absatzgebiet unternehmerisch etablieren. Zwar war ihnen die Gewerbefreiheit geblieben, aber für die gesamte heimische Textilindustrie stellte sich eine schwere anhaltende Krise ein. Wegen der Kontinentalsperre hatte England Massen an Waren gehortet, mit denen es, nach Aufhebung der Sperre, nun den europäischen Markt überflutete. Viele Betriebe waren der Konkurrenz nicht gewachsen und gingen ein.
Zudem kam es zwischen der pfälzischen Provinz Rheinbayern und Bayern zu Konflikten, zum Nachteil der Pfalz. So wurden die Lambrechter Tuchmacher bei Vergaben von Staatsaufträgen lange Zeit übergangen. Keine guten Bedingungen für die Industrialisierung der Tuchmacherei!
Ab wann die Lambrechter Tuchmacher diese konkret angehen konnten, kann nur vermutet werden. Anstöße dafür könnten gegeben haben, dass nach Brügelmann (s.o.) der Engländer Cockerill 1799 in Wolkenburg bei Penig und 1806 in Düren weitere Spinnmaschinen auf dem Kontinent aufgestellt, schließlich dann auch 1816 in Guben eine erste moderne Spinnerei eingerichtet hatte. Für die genannten Orte bedeutete dies enorme Wettbewerbsvorteile, was auch die Lambrechter Tuchmacher zu spüren bekamen!
Entscheidend könnte gewesen sein, dass der Neustadter Bankier Dacqué 1818 im Neustadter Schöntal eine wassergetriebene mechanische Spinnerei eingerichtet hatte. Weil er selbst aber ein Opfer der englischen Konkurrenz mit ihrer Massenware wurde (s.o), soll er daran bankrott gegangen sein. Andererseits soll diese Spinnerei nur wenige Jahre bestanden haben, weil die Lambrechter Tuchmacher als einzige Abnehmer absprangen, nachdem sie ihre erste eigene mechanische Spinnerei eingerichtet hatten.
Mit Dacqué hatten die Lambrechter Tuchmacher nun aber reale Erfahrung mit mechanischem Spinnen gemacht: Das Spinnen von Garn ging flott, die Produktionsmenge war hoch, das maschinengesponnene Garn war sehr gleichmäßig, die damit gewebten Stücke von bester Qualität! Und jetzt erst schien auch die Zeit gekommen gewesen zu sein, sich mit der Industrialisierung der Lambrechter Tuchmacherei ernsthaft zu befassen.
In der Diskussion darüber war ein Großteil der Tuchmacher misstrauisch gegenüber dem „neumodischen Zeug“. Deren Hauptargument gegen die Industrialisierung waren die hohen Kosten und das große Risiko dabei.
Nun, die Kosten waren in der Tat enorm. Denn es ging nicht nur um eine Spinnmaschine, sondern um weit mehr! Anfang des 19. Jahrhunderts erforderte mechanisches Spinnen in voller Ausrüstung zwei Krempeln (Roh- und Feinkrempel), eine Vorspinn-, vier Feinspinnmaschinen (Spinning Jennies, handgetrieben) und zwei Haspeln. Das Aufstellen eines solchen Assortiments, so der Sammelbegriff dafür, erforderte einen großen Fabrikbau, wie er innerhalb Lambrechts nicht zu errichten war.
Letztlich fassten 16 Tuchmacher den Mut, erwarben vor 200 Jahren beim Lindenberger Nonnental das benötigte Gelände und errichteten darauf 1823 die „Untere Tuchfabrik“ als erste genossenschaftliche mechanische Spinnerei im Lambrechter Tal, ausgerüstet mit Maschinen aus Verviers. Der Start ins Industriezeitalter war damit gelungen.